Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung: Stabilität sichern, Wandel gestalten

Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung bietet hier eine systemisch durchdachte Antwort für Veränderung ohne Kontrollverlust. Sie liefert daher einen wirksamen Ansatz für Führung in komplexen Zeiten.

Die Aufgaben sind offensichtlich: Die öffentliche Verwaltung steht unter gewaltigem Veränderungsdruck. Digitalisierung, Fachkräftemangel, neue Erwartungen von Bürgern und politische Dynamiken verlangen nach Anpassung – ohne jedoch die Sicherheit, Verlässlichkeit und Rechtssicherheit des Systems aufs Spiel zu setzen. Gerade für Führungskräfte im höheren und mittleren Dienst stellt sich die Frage: Wie lassen sich Routinen bewahren und gleichzeitig neue Wege einschlagen?

Beidhändig führen in einer komplexen Welt

Was ist Ambidextrie eigentlich? Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet sinngemäß „Beidhändigkeit“. In Organisationen beschreibt Ambidextrie die Fähigkeit, zwei scheinbar gegensätzliche Handlungsweisen gleichzeitig umzusetzen: einerseits Effizienz durch stabile, standardisierte Prozesse (Exploitation), andererseits Innovationskraft durch Erkundung neuer Lösungen (Exploration).

Übertragen auf die Verwaltung bedeutet das: Bestehendes effizient umsetzen und gleichzeitig neue Denk- und Arbeitsweisen integrieren. Es geht um beides: Regelkonformität UND Innovation in der Verwaltung. In der Praxis erfordert das ein sehr bewusstes Gestalten der Schnittstellen zwischen dem Bekannten und dem Neuen.

Hintergrund und Relevanz: Warum Ambidextrie jetzt entscheidend ist

Verwaltungen sind traditionell auf Verstetigung, Kontrolle und Rechtskonformität ausgerichtet. Typische Spannungsfelder entstehen etwa bei der Umsetzung neuer digitaler Dienste oder der Reaktion auf kurzfristige Gesetzesänderungen, die bestehende Abläufe in Frage stellen. Gleichzeitig verlangt die Gegenwart Fähigkeit zur Anpassung und Entwicklung. Das erzeugt Spannungen – und genau diese gilt es zu gestalten.

Systemisch betrachtet lebt jede Organisation von der Dynamik ihrer Subsysteme. Ambidextrie bietet hier ein Verständnis davon, wie scheinbare Gegensätze produktiv integriert werden können. Forschung zeigt: Organisationen, die Ambidextrie praktizieren, sind resilienter und leistungsfähiger.

In der Praxis bedeutet das für Führung: Routinen sichern, ohne Veränderung zu verhindern. Innovation in der öffentlichen Verwaltung ermöglichen, ohne Chaos zu erzeugen. Diese Balance ist keine Frage von Entweder-oder, sondern von Sowohl-als-auch.

Vorteile ambidextrer Verwaltungseinheiten

  • Hohe Anpassungsfähigkeit bei gleichbleibender Prozesssicherheit (z.B. schnelle Reaktion auf neue Anforderungen bei gleichbleibender Servicequalität)
  • Verbindung von Stabilität und Innovationsfreude (z.B. neue Tools testen, ohne die Kernaufgaben zu vernachlässigen)
  • Steigerung der Mitarbeitendenmotivation durch Gestaltungsspielräume (z.B. mehr Partizipation in Entwicklungsvorhaben)
  • Verbesserte Dienstleistungsqualität für Bürger:innen (z.B. digitale Antragsverfahren, die aus Nutzerperspektive mitgedacht sind)
  • Stärkung der Resilienz von Teams und Organisationen (z.B. durch Erfahrungslernen und Feedbackzyklen)

Ambidextrie in der Verwaltung wirksam umsetzen

Auf Führungsebene: Eine Führungskraft im mittleren Management bekommt den Auftrag, bestehende Routinen weiter zu optimieren – beispielsweise im Bereich von Standardverfahren – und gleichzeitig ein Pilotprojekt für eine digitale Bürgerplattform aufzusetzen. Emotional bedeutet das: Einerseits der Druck, dass „Altbewährtes“ weiterhin reibungslos funktionieren muss. Andererseits die Neugier und Herausforderung, etwas grundlegend Neues mitzugestalten. In der Auseinandersetzung mit beiden Perspektiven wächst die Erkenntnis: Es ist möglich, beides miteinander zu verbinden. Die Erfahrung, dass Sicherheit und Innovation nicht im Widerspruch stehen müssen, wird zu einer zentralen Ressource für die eigene Führungsentwicklung.

In den Teams: Ein Team ist routinemäßig mit der Aktenbearbeitung betraut, erhält aber parallel den Auftrag, einen Chatbot für Bürgeranfragen mitzuentwickeln. Zunächst entsteht Verunsicherung: „Wie sollen wir das neben dem Tagesgeschäft schaffen?“ Die Führung etabliert neue Methoden wie Design Thinking und schafft Räume für Reflexion durch Retrospektiven. Mit der Zeit entwickelt sich ein neues Selbstverständnis: „Wir können nicht nur verwalten, wir können auch gestalten.“ Der Stolz auf das Erreichte wirkt identitätsstiftend und motivierend.

Organisation und Verwaltungseinheit: Eine ganze Abteilung wird ambidextrisch aufgestellt. Eine Einheit sichert das Tagesgeschäft, während ein paralleler Bereich mit agilen Methoden an digitalen Dienstleistungen arbeitet. Durch regelmäßige Austauschformate und systematische Feedbackzyklen werden beide Bereiche miteinander verknüpft. Mitarbeitende berichten: „Hier zählt beides – das, was sich bewährt hat, und das, was sich entwickeln will.“ Die Erfahrung, dass Gestaltungsfreiraum und Verbindlichkeit koexistieren dürfen, fördert Vertrauen, Engagement und Innovationsbereitschaft.

Ambidextrie-Führung braucht Haltung und Methode

In der Ambidextrie Führung geht es nicht nur um Strukturen, sondern vor allem um Haltung. Sie verlangt die Bereitschaft, Spannungen auszuhalten und Gegensätze produktiv zu integrieren. Systemisches Denken, Selbstreflexion und dialogische Kommunikation sind hier zentrale Ressourcen.

Pädagogisch-didaktische Kompetenzen werden für Führungskräfte zunehmend entscheidend: Wie können Mitarbeitende zur Mitgestaltung ermutigt werden? Welche Fragen fördern Denken in Auswirkungen anstatt zu reinem Abarbeiten zu führen? Wie gelingt es, Sicherheit UND Entwicklung zu vermitteln?

Worauf zu achten ist

  • Ambidextrie ist auch in der Verwaltung kein Selbstläufer: Sie braucht klare Rollen, Ressourcen und Kommunikation
  • Überforderung vermeiden: Mitarbeitende müssen Unterstützung beim Wechsel zwischen Stabilität und Wandel erhalten. Es muss einen Ansprechpartner für Unsicherheiten geben
  • Rechtliche Rahmenbedingungen müssen beachtet, aber nicht als Ausrede für Stillstand genutzt werden.
  • Ambidextrie muss zur Kultur und Struktur der jeweiligen Verwaltungseinheit passen.
  • Regelmäßige Reflexion ist essenziell, um nicht in einseitige Logiken zu kippen.

Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung ist eine Notwendigkeit.

Dort, wo Führung es schafft, beides zu denken und zu leben – Kontinuität und Innovation, Struktur und Offenheit, Vorgabe und Dialog – entsteht echte Gestaltungsfähigkeit. Ambidextrie bedeutet nicht, den Spagat zwischen Alt und Neu zu überwinden, sondern ihn bewusst zu gestalten.

Führung im öffentlichen Dienst wird dadurch menschlicher, wirksamer und zukunftsfähiger. Erste Schritte könnten sein: interne Pilotprojekte, systemische Führungskräfteentwicklung, Raum für Austausch über Spannungsfelder im Alltag. Denn: Nur wer Ambidextrie lebt, wird Wandel gestalten, ohne Verbindlichkeit zu verlieren.

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